Ich kenne einen Mann, das englische Wort Gentleman wäre passend für ihn. Perser, seit vielen Jahren in Österreich, spricht hervorragend Deutsch mit einem leichten Akzent, sehr gewählte Ausdrucksweise. Die Worte, die er ausspricht, spricht er mit Bedacht, und für gewöhnlich haben sie genau die Bedeutung, die sie haben. Ich unterhalte mich gerne mit ihm.
Vor ein paar Tagen habe ich ihn wieder einmal getroffen. Er hat von seinen Kindern erzählt, die in Wien leben, und dass er bald Großvater wird, mit leichtem Bedauern, weil das Enkelkind dann so weit weg ist. Ein bisschen wehmütig hat er gewirkt.
Und dann - da gibt es jetzt keinen Zusammenhang mit den Kindern - hat er gemeint, früher wäre vieles besser gewesen. Er ist damals hierher gekommen wegen der Kultur, und nun muss er feststellen, dass wir Europäer unsere Kultur verlieren.
Der Blick von außen ermöglicht es manchmal, gewohnte Gedanken anders zu denken und Selstverständliches nicht mehr für selbstverständlich zu halten. Als er das Wort Kultur gesagt hat, war mein erster Gedanke, die Kunst, die Musik, die Literatur, die Architektur, das Theater. Doch dann habe ich den Gedanken weiter verfolgt und mich gefragt, was ist das eigentlich, die Kultur? Und bin zu dem Schluss gekommen, dass Kultur wesentlich mehr ist als Kunst, Musik, Literatur usw. Kultur ist all das, was über die bloße Bedürnisbefriedigung (essen, schlafen, ein Dach über dem Kopf) hinausgeht. Die Kunst ist davon nur ein kleiner Teil. Kultur ist die Art, wie wir unser Zusammenleben gestalten, Kultur ist die Art der Staatsform, Kultur ist es, wie wir mit unseren Kindern umgehen, wie wir uns zum Essen zusammenfinden, im Grunde ist alles Kultur.
So gesehen ist es unmöglich, Kultur zu verlieren. Aber die Qualität der Kultur kann sich ändern. Und das ist etwas, das sich tatsächlich geändert hat. Vielleicht ist das aber auch nur mein subjektives Empfinden, manche Dinge verlieren mit der Zeit einfach ihren Glanz. Was mir durch diese kleine Bemerkung vor Augen geführt wurde, ist, dass sich der Umgang der Menschen miteinander ganz wesentlich geändert hat. Sie sind härter geworden, sie setzen ihre Ellbogen mehr ein als früher, sicher auch bedingt dadurch, dass sich manche Rahmenbedingungen geändert haben. Es war ein schleichender Prozess, nicht so offensichtlich. Ich denke, dass das damit gemeint war, als er sagte, wir verlieren unsere Kultur. Trotzdem - seine Worte haben für gewöhnlich genau die Bedeutung, die die Worte eben haben. Das irritiert mich.