Die Straße meiner Kindheit war damals, in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine Hauptverkehrsstraße. Den ganzen Tag fuhren Autos vorbei, auch die ganze Nacht. Wir wohnten in einem Hochhaus im zehnten Stockwerk. Rundherum waren noch mehr Hochhäuser. Eine trostlose Kindheit, werden manche sagen. Jedoch waren dort nicht nur Hochhäuser und viele Autos.
Hinter den Hochhäusern, da war der Urwald. So nannten wir Kinder diese Halde, die bewachsen war mit dichtem Gestrüpp und Brennesseln. Riesengroße unverbaute Flächen gab es dort noch. Am Rand des Urwalds gab es auch eine Barackensiedlung. Notdürftig zusammengezimmerte Häuschen, in denen die Leute wohnten, vor denen unsere Eltern uns warnten. Was ein zusätzlicher Anreiz war, sie zu besuchen.
Im Urwald hielten wir uns stundenlang auf. Das war ein Abenteuerspielplatz par excellence. Den Eltern war es damals auch ziemlich egal, was die Kinder den ganzen Tag lang trieben, solange sie zur Essenszeit wieder zuhause waren. Passieren konnte nicht viel. Auf die Straße durften wir nicht, und daran hielten sich auch alle. Was sollte man schon auf einer stinkenden Hauptstraße, wenn man auch einen Urwald hatte.
Irgendwann änderte sich dann das Bild. Das erste Anzeichen dafür war, dass die Barackensiedlung verschwand. Dann wurden neben dem Urwald neue Häuser gebaut. Ein Abenteuerspielplatz wurde gebaut. So einer mit Klettergerüsten und Seilen, auf denen man hin und her schwingen konnte. Die Kinder wurden in erwachsenenkonforme Bahnen gelenkt. Der Spielplatz war nicht ganz das gleiche wie der Urwald, aber man ging eben hin, wenn die Kinderbande beschloss, dorthin zu gehen. Und dann, ganz plötzlich, fuhren Baumaschinen auf. Der Urwald verschwand, neue Wohnhäuser wurden gebaut. Die hatten rundherum gepflegte Rasenanlagen, und neben jedem Wohnhaus gab es auch eine Schaukel, eine Rutsche und eine Sandkiste. Kinder spielten auch dort, aber irgendwie hatte das alles nicht mehr diesen Hauch von Abenteuer, den es davor gehabt hatte.
Meine Eltern wohnen auch heute noch dort, nicht mehr in dem zehnstöckigen Hochhaus, sondern in einem von den neuen Wohnhäusern mit Rasenanlagen. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, gibt es mir einen kleinen Stich ins Herz, wenn ich daran denke, wie es dort einmal aussah. Aber vielleicht ist das auch nur die übliche Nostalgie, wenn man an die Kindheit zurückdenkt. Und ich frage mich auch, wo die ganzen Kinder sind. Die muss es doch geben in einer Gegend, die so dicht verbaut ist.