Das ist heute wieder einmal so ein Thema, bei dem ich lange überlegt habe, ob ich darüber schreiben soll. Es ist ein Thema, das in der Öffentlichkeit liegt, in gewisser Weise aber auch ein sehr persönliches Thema, das mich mein Leben lang begleitet hat. Ich bin mir auch noch nicht sicher, ob ich heute damit fertig werde, und noch weniger sicher bin ich mir, ob ich die richtigen Worte dafür finde. Behutsame Worte sind hier gefragt. Vorausschicken möchte ich auch, dass ich nie viel davon gehalten habe, mir nahestehende Personen an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Die Geschichte, die ich erzählen möchte, hat auch gar nicht so viel mit den persönlichen Geschichten zu tun, die darin vorkommen. Diese sind nur ein Beispiel, wie es in ähnlicher Form Tausende solcher Geschichten gibt.
Vor wenigen Tagen haben Jugendliche eine Gruppe von KZ-Überlebenden, die an den Ort ihres persönlichen Grauens gereist sind, beschossen. Am Tag davor schon - das wurde mit etwas Zeitverzögerung bekannt - haben sie eine andere Gruppe von KZ-Überlebenden mit "Heil Hitler"-Rufen empfangen. Stellt euch bitte das Entsetzen dieser Menschen vor, die nach Jahrzehnten an diesen schrecklichen Ort zurückkehren (das Konzentrationslager Ebensee in Tirol) und dann mit solchen Rufen und Plastikgeschoßen empfangen werden.
Die Täter wurden mittlerweile ausgeforscht. Es handelt sich um 5 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren. Bei der Befragung gaben sie an, sie wollten provozieren und Aufmerksamkeit erlangen. Über die Grauen jener Zeit wussten sie bemerkenswert wenig.
Mein Vater ist Jahrgang 1925, meine Mutter 1928. Sie haben diese Zeit miterlebt. Heute sind sie alt, das kann man mit gutem Gewissen sagen. In letzter Zeit ist in den Gesprächen mit ihnen immer öfter der Tod ein Thema. Das halte ich für nur natürlich. Viele ihrer Generation sind schon gegangen, die Liste wird immer länger. Mit einer leisen Wehmut erfüllt mich das, und sie selbst mit einer Resignation gegenüber dem Unausweichlichen. Immer öfter ertappe ich mich auch dabei, auf unser gemeinsames Leben Rückschau zu halten, ganz so, als ob es schon zu Ende wäre.
In unserem gemeinsamen Leben gibt es viele schöne Momente - glückliche, unbeschwerte Kindheitsmomente. Es gibt aber auch Momente, an die ich nicht so gerne zurückdenke. Wenn ich an die Vergangenheit denke, so tauchen da immer wieder Augenblicke auf, in denen plötzlich eine Mauer des Schweigens zwischen uns stand. Unverständnis, Unaussprechliches, eine unsichtbare Hand, die sich plötzlich vor den Mund legte. Mein Leben lang habe ich damit verbracht, diese Mauer zu ergründen, ich konnte sie nie verstehen. Lange Zeit habe ich auch gedacht, dass das nur in meiner Familie so wäre und dass in anderen Familien diese Mauer nicht bestünde. Erst viel später ist mir klar geworden, dass das ein Irrtum war. Es gibt andere aus meiner Generation, denen es genauso geht. Und diese Mauer gibt es immer noch. Sie wird bröckeliger mit der Zeit, aber sie steht.
Ich führe das auf die Zeit des Nationalsozialismus zurück. Die Jugend meiner Eltern fand in einer Zeit statt, in der eine, nein, nicht nur eine, in der mehrere Generationen einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. In einer Zeit, in der sie hätten tanzen sollen und sich verlieben, wurden sie mit Parolen aufgehetzt, versteckten sich in Luftschutzkellern und wurden (im Fall meines Vaters) zur Armee eingezogen. Zur gleichen Zeit starben Millionen von Menschen. Diejenigen, die aus reinem Zufall jüdische Eltern hatten, in den Gaskammern des Dritten Reiches, andere auf den Schlachtfeldern eines sinnlosen Krieges. Meine Eltern hatten das Glück, von den damals "richtigen" Menschen gezeugt worden zu sein. Sie hatten das Glück, auf die richtige Seite gefallen zu sein. Das muss ihnen bewusst sein.
Mein Wissen über diese Zeit stammt nicht von meinen Eltern, wenn doch, dann bestenfalls in kurzen, angedeuteten Geschichten. Mein Wissen stammt aus dem Geschichtsunterricht, aus Filmen, die ich gesehen und aus Büchern, die ich gelesen habe. Ich war auch im Konzentrationslager Mauthausen. Dort gibt es eine Wand, an der Fotos der Ermordeten aufgehängt sind. Diese Fotos waren es, die dem unmenschlichen Grauen für mich ein Gesicht gegeben haben, die mich tatsächlich in Ansätzen begreifen ließen, was hier geschehen ist. Es sind Fotos von ganz normalen Menschen, Bäcker, Studenten, Maurer, ein ganz normaler Querschnitt der Bevölkerung. Menschen, denen die Zukunft geraubt wurde. Wenn ich heute manchmal höre, man sollte die Vergangenheit ruhen lassen, das alles ist längst vorbei, dann kann ich nicht anders als dem entgegenzuhalten: Dieser Massenmord darf niemals vergessen werden. Diese Menschen haben es sich nicht verdient, in Vergessenheit zu geraten.
Der Holocaust ist ein Ereignis, das in der Geschichte einzigartig ist. Oft wird argumentiert, ja, aber, das hat es anderswo auch gegeben. Es stimmt, ja, auch andere grausame Herrscher haben Konzentrationslager als Mittel zum Terror gegen die eigene Bevölkerung für sich entdeckt. Doch kann das erstens niemals eine Entschuldigung sein und ändert zweitens nichts an der Tatsache, dass hier erstmals in der Geschichte eine ganze Bevölkerungsgruppe systhematisch ausgerottet wurde, allein wegen ihrer Herkunft.
Das Wissen über diese Zeit ist, wie der oben geschilderte Vorfall verdeutlicht, erschreckend gering. Doch hat die Ideologie dieser Zeit bis heute überlebt. An anderer Stelle habe ich gesagt, dass die Geschichte auch mit der Gegenwart zu tun hat, auch mit der Zukunft. Geschichte ist niemals vorbei, sie wirkt immer nach.
Fortsetzung folgt.