Mittwoch, 27. Januar 2010

Bilder

Es gibt Bilder, die, wenn man sie einmal gesehen hat, für immer im Gedächtnis haften bleiben. Das Bild des Mädchens in Vietnam, das schreiend und von Napalm getroffen die Straße entlang läuft, hat Geschichte gemacht. Wer das Bild jemals gesehen hat, wird es nie vergessen.
Weniger bedeutende Bilder gibt es auch in kleinerem Zusammenhang. Jeder, der Urlaubsfotos macht, verbindet mit seinen Bildern bestimmte Momente und Ereignisse, die für den Rest der Welt nicht so wichtig sind, für ihn selbst aber sehr.
Solche Bilder gibt es auch in meiner Familie. Es gibt ein Bild von mir, noch sehr klein, wie ich mit heruntergelassener Hose auf dem Topf sitze und ein sehr verzwicktes Gesicht habe. Das ist ein Moment, an den ich mich noch sehr gut erinnern kann und der in meiner Familie seit Jahrzehnten schon für Heiterkeit sorgt, weil ich damals die Worte ausgesprochen habe: "Ich war doch gestern schon auf dem Klo." Immer wieder wird diese Geschichte durchgekaut.
Etwas weiter zurück in der Geschichte gibt es ein Bild von meiner Mutter. Es stammt aus der Zeit, bevor sie mit meinem Vater verheiratet war. Mein Onkel hatte damals ein Auto gekauft, einen VW Käfer, und voller Stolz machten sie damit die erste Fahrt ans Meer, nach Grado. In den 50er-Jahren war das. Das Bild zeigt meine Mutter, an eine niedrige Mauer gelehnt, mit dem Meer zur rechten Hand. Das Besondere an dem Bild ist das Strahlen, das von ihm ausgeht. Meine Mutter, eine hübsche junge Frau mit schwarzen Locken damals, strahlt vor Glück. Nie habe ich sie so gesehen. Diese Unbeschwertheit und diese reine Freude an der Schönheit der Umgebung, die ist auf dem Bild eingefangen.
Noch weiter zurück in der Geschichte gibt es ein Foto vom ersten Ball nach dem Krieg. Darauf sieht man meine Tante, mit dicker Hornbrille und ihrem selbstgeschneiderten Ballkleid, im Mittelpunkt einer Runde von jungen Leuten. Eine quirlige Person war sie immer, man sieht auf dem Bild, wie sie die ganze Runde in ihren Bann schlägt. Alle sehen zu ihr auf. Am Rand des Bildes ist auch meine Mutter. Wunderschön ist sie, das schönste Mädchen weit und breit. Aber sie fühlt sich nicht wohl in so einer großen Runde. Viel lieber wäre sie zuhause geblieben, hätte nicht meine Tante gesagt: "Geh doch mit! Das wird sicher lustig!" So sitzt sie abseits und bemüht sich, Haltung zu bewahren und den Abend irgendwie zu überstehen.
Gemeinsam ist diesen Bildern, dass sie alle mein Onkel gemacht hat. Zeit seines Lebens war er ein begeisterter Fotograf, der immer ein Gespür für die besonderen Momente hatte. Vielleicht haben manche von euch schon Diavorträge gesehen. Die gab es vermehrt früher, bevor die Digitalfotografie das Rennen gewonnen hat. Das war eine festliche Angelegenheit. Eine große Leinwand musste aufgebaut werden, der Projektor genau ausgerichtet, dann wurde das Licht ausgemacht, und alle konnten überlebensgroß Klein-Margot auf dem Topf betrachten - zum Beispiel. Es gab Vorträge, bei denen man Mühe hatte, wach zu bleiben, weil die Bilder so abgrundtief schlecht waren, und es gab Vorträge, bei denen man gebannt jedes einzelne Bild betrachtete. Die Diaabende meines Onkels gehörten immer zur zweiten Sorte.
Das letzte Bild, das er gemacht hat, habe ich noch nie gesehen. Ich vermute, dass es eine Runde von sechs Personen zeigt, die sich alle bemühen, einen Kloß im Hals zu unterdrücken. Geschwächt von seiner Krankheit, konnte mein Onkel gerade noch die Kamera halten. Aber er musste ein Foto machen, um sich erinnern zu können, wie er sagte. Dass ihm nicht mehr viel Zeit zum sich Erinnern bleiben wird, das weiß er seit einem Jahr. Ihm, der immer die Stimmungen der Menschen so genau gesehen hat, sind sicher auch die sechs Klöße in den sechs Hälsen nicht verborgen geblieben.
Was einem so durch den Kopf geht, wenn man traurig ist. Manche Geschichten gehören nicht ins Internet. Die Geschichte vom besonderen Blick, die soll die Welt wissen.

6 Kommentare:

  1. Mensch Margot, jetzt habe ich auch einen Kloss im Hals.
    Aber Du hast eine tolle Art zu schreiben - da merkt man, dass Du Leserin bist. So gut schreiben können nur Bücherwürmer!

    Kopf hoch und viel Kraft! *drück*

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  2. Liebe Margot es tut mir sehr leid, dass Du so einen besonderen Menschen verloren hast. Seine Fotos werden Dich immer an ihn erinnern.
    Als Kind, Freundin, Tochter usw. ziert man sich ja manchmal für ein Foto oder rollt die Augen, wenn es herzgezeigt wird und dabei sind es so große Schätze, wie man manchmal erst später erkennt. Ich lasse daher immer noch viele Abzüge machen, die sind viel echter als die Bilddatein auf dem Rechner. Liebe Grüße von Antje

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  3. Berührend. Es werden Anteile von ihm und den Bilder in euch bleiben. Wir tragen den Menschen der uns verlässt in uns weiter, meine Großmutter lebt so in mir ganz nah am Herzen.Ich bin dankbar das sie so nah ist. der Tod kann uns nur körperlich trennen, der Geist eines lieben Menschen bleibt.

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  4. So ist das mit den alten Fotos, die das vergangene Leben widerspiegeln. Da gibt es lustige und traurige Erinnerungen. Aber das Bild auf dem Töpfchen! Das wäre wohl eine Veröffentlichung wert! Lach!
    Liebe Grüße
    Joachim

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  5. Das ist eine sehr liebenswerte Geschichte, wie Du über Deinen Onkel schreibst!
    Du erinnerst mich auch an Diavorträge. Manchmal hat man die nur über sich ergehen lassen, weil man den oder die Vortragenden gerne mochte. Das wurde schamlos ausgenutzt, statt einer Stunde wurden es drei, vier oder mehr. Genau wie mein Vater mit seiner Briefmarkensammlung. Wehe dem, der sie sehen wollte... Und trotzdem ist´s schön, diese Begeisterung für ein Hobby.

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  6. Ich möchte mich bei euch allen bedanken, dass ihr den Mut aufgebracht habt, hierzu etwas zu schreiben. Damit hatte ich gar nicht gerechnet, eigentlich habe ich diese Geschichte nur für mich aufgeschrieben, weil sie einfach aufgeschrieben gehörte. Vielleicht war sie auch missverständlich. Mein Onkel lebt noch. Allerdings gibt es nichts mehr, was die Ärzte für ihn tun könnten. Langsam aber sicher verschwindet er, aber noch hat er die Kraft sich dagegen zu wehren. Die Kraft, eine Kamera zu halten, hat er nicht mehr.
    Vielen Dank!

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Ich freue mich, dass ihr bis hierher gelesen habt und freue mich noch mehr, wenn ihr eure Meinung dazu sagt.