Lange ist es her, da gab es hier in der Gegend einen Mann, damals so um die 50, der mit Vorliebe Frauen belästigte. Das sah dann ungefähr so aus: Wenn man im Bus war und aussteigen wollte zum Beispiel, dann hatte man, während man bei der Tür stand und darauf wartete, dass sie aufging, plötzlich eine Hand am Hintern und musste sich irgendwelche anzüglichen Sprüche anhören. Meine Lehren daraus habe ich gezogen und mich in Zukunft im Bus weit entfernt von diesem Mann hingesetzt. Von dort aus konnte ich auch beobachten, dass ziemlich viele Frauen Opfer seiner Attacken wurden. Ein ziemlich normaler Vorgang, wie es mir damals erschien. Es ist ja nicht so, dass er der einzige Mann war, der sich so benahm. Was mich wirklich einmal interessieren würde, ist, ob es eigentlich Frauen gibt, die solche oder ähnliche Erlebnisse noch nie gehabt haben.
Nun habe ich ihn schon jahrelang nicht mehr gesehen, diesen Mann, und auch gar nicht mehr an ihn gedacht. Bis auf gestern. Da war er plötzlich wieder im Bus. Eine jämmerliche Erscheinung, kann man sagen, körperlich hinfällig, er hat gezittert, die Beine spindeldürr, eine Gehhilfe hatte er mit. So alt kann er noch gar nicht sein, noch keine 70, würde ich meinen. Aber es war unverkennbar er, wenn auch sehr verändert. Die Erinnerung an früher war sofort wieder da, aber es wollte sich nicht so recht eine Schadenfreude einstellen. Mitleid trifft es eher, und die Gedanken, ob er es sich damals hätte vorstellen können, dass seine Zukunft so aussieht.
Wie es der Zufall so will, musste er genau bei der gleichen Haltestelle wie ich aussteigen. Das war ein mühevolles Unterfangen. Kurz - ich gebe es zu - war ich versucht, einfach wegzugehen und ihn seinem Schicksal zu überlassen. Schäbig bin ich mir dabei vorgekommen. Dann habe ich mich umgedreht und ihm aus dem Bus geholfen. Diese Stufen bis zur Gehsteigkante sind aber auch sowas von hoch. Es war gar nicht so einfach, ihn aus dem Bus heil hinaus ins Freie zu befördern. Als das geschafft war, hat er sich auf seine Gehhilfe gestützt und sich bedankt. Kein Funke von Erkennen war in seinem Gesicht zu sehen. Aber Erleichterung und riesengroße Dankbarkeit.
Das schizophrene Verhältnis zu Russland
vor 20 Stunden